Ein Kompass für effiziente Prävention Bauchentscheide seien in der Unfallprävention ein schlechter Ratgeber, sagt Stefan Siegrist, Direktor der BFU, denn sie können täuschen. Auch für den Präsidenten von Public Health Schweiz, Thomas Steffen, ist klar: Auch gut gemeinte Gesundheitsversorgung schadet, wenn sie falsch eingesetzt wird. Ein Gespräch über Prioritäten und effiziente Prävention.

Prävention wirkt. Sie wirkt dann, wenn man sie an der richtigen Stelle, mit treffenden Massnahmen betreibt. Die BFU lässt sich dabei von einem Kompass mit zwölf Präventionsgrundsätzen leiten. BFU-Direktor Stefan Siegrist und der Präsident von Public Health Schweiz, Thomas Steffen, diskutierten am Hauptsitz der BFU darüber, welche Prioritäten es in der Prävention für ein gesundes und unfallfreies Leben zu setzen gilt.

Um gesund zu bleiben und nicht zu verunfallen, können die Menschen selbst viel tun. Es braucht aber vor allem effiziente Präventionsarbeit. Weshalb setzt die BFU dazu auf 12 Grundsätze?

Stefan Siegrist: Bauchentscheide können richtig sein, aber auch brutal daneben. Auch wenn die Entscheide auf den ersten Blick plausibel wirken. Um die richtigen Prioritäten zu setzen und die Ressourcen wirkungsvoll einzusetzen, braucht es Evidenz und Expertise. Deshalb handeln wir bei der BFU anhand von zwölf Präventionsgrundsätzen.

Thomas Steffen: Die richtigen Prioritäten zu setzen, ist wichtig. So kann zum Beispiel auch gut gemeinte Gesundheitsversorgung schaden, wenn sie falsch eingesetzt wird. Gerade Studierende haben oft eine individuelle Sicht auf die Medizin. Für sie geht es um sie und ihre Patientinnen oder Patienten, denen sie helfen wollen. Die Kunst ist, einen Perspektivenwechsel herbeizuführen – von der eigenen Froschperspektive in die überblickende Vogelperspektive. Modernes Gesundheitsmanagement umfasst nicht «nur» den zugewandten Umgang mit dem einzelnen Menschen, sondern auch Grundlagenarbeit mit Statistik, Expertise und Evidenz, um dann beispielsweise die einzelne Patientin oder den einzelnen Patienten optimal behandeln zu können.

Die Gesellschaft hat heute ein hohes Sicherheitsbedürfnis, stösst damit jedoch an Grenzen. Nicht jede Schramme, jedes Bauchweh lässt sich verhindern. Wie viel Unfall und Krankheit sind akzeptabel?

Stefan Siegrist: Wir sind vor allem dort aktiv, wo es den grössten Präventionsbedarf gibt – also dort, wo viele schwere und tödliche Unfälle passieren. Dieser Bedarf stimmt nicht immer mit dem Bedürfnis der Menschen nach Sicherheit überein. Nicht alles, was die Menschen als gefährlich wahrnehmen, ist tatsächlich ein Unfallschwerpunkt. Bei schweren Unfällen mit Kindern kennt die Gesellschaft keine Toleranz. Um diese zu verhindern, ist viel Aufwand nötig. Kleinere Unfälle gehören zur Entwicklung dazu. Wo aber die Gesellschaft die Grenzen setzt und uns damit den Auftrag zur Prävention gibt, ist eine politische Frage. Das grosse menschliche Leid und 12 Milliarden Franken materielle Kosten, die Nichtberufsunfälle verursachen, sind ein gutes Argument. Deshalb geht es darum, Prioritäten zu setzen, wichtig von unwichtig zu unterscheiden, sogar bei Kindern.

Thomas Steffen: In der Medizin geht es auch darum, wie viel Krankheitslast wir überhaupt bewältigen können. Das hat sich in der Coronapandemie sehr gut gezeigt, als die Intensivbetten knapp wurden. Da ist eine Diskussion entstanden, ob es noch akzeptabel ist, dass die Menschen Ski fahren und im Verletzungsfall die Spitäler zusätzlich belasten. Letztlich geht es um die Frage, an welchem Punkt die Gesellschaft regulieren soll. Ob wir etwa den Tabakanbau in der Schweiz finanziell unterstützen wollen und damit indirekt vielleicht Jugendliche zum Rauchen animieren? Tabakprävention wirkt im Jugendalter am besten. Prävention muss generationenübergreifend ansetzen. Denn viele Krankheiten treten erst Jahre später auf. Die schädigende Wirkung von Rauchen führt erst nach 20 bis 30 Jahren zu tabakbedingten Herz- und Lungenkrankheiten oder Krebs.

«Es geht auch darum, den Menschen möglichst zu entlasten, statt mit viel Aufwand zu versuchen, das fehlerhafte Verhalten zu verändern.»
Stefan Siegrist

Welche Rolle spielen ethische Überlegungen? In der Politik gibt es Diskussionen darüber, dass bewusst in Kauf genommene Risiken, beispielsweise Übergewicht, in den Versorgungsgrad einfliessen sollen.

Thomas Steffen: Solche Diskussionen sind hochgradig unethisch und führen in der Gesundheitsversorgung in eine Sackgasse. In meinem Weltbild als Arzt ist eine Patientin oder ein Patient immer mit den verfügbaren Mitteln bestmöglich zu behandeln. Alles andere öffnet gesellschaftliche Abgründe. Wir alle verhalten uns manchmal nicht korrekt. Das hat damit zu tun, dass wir Menschen sind, und das ist gut so. Es gibt manchmal auch Gründe fürs Rauchen oder für Übergewicht, welche die Willenskraft des Menschen übersteuern. Deshalb muss der Ansatz lauten, möglichst nicht in ein schädliches Verhalten einzusteigen. Für die Tabakprävention kann dies heissen, Tabakwerbung vor allem im Kinder- und Jugendbereich zu verbieten.

Welches Gewicht hat die Selbstverantwortung in der Unfallprävention?

Stefan Siegrist: Wir wissen als Spezialistinnen und Spezialisten, dass wir nicht alles gleich gut abdecken können, und wir befinden uns in einem Spannungsfeld: Kinder sind entwicklungsbedingt noch nicht in der Lage, sich im Strassenverkehr sicher zu verhalten. Sie müssen auf dem Schulweg aber am Strassenverkehr teilnehmen und sind deshalb stark fremdgefährdet. Deshalb gilt es, sie zu schützen. Anders ist es bei einer mündigen Person, die bewusst einer Risikosportart nachgeht. Wir gehen aber nicht so weit, den Verunfallten die Schuld zu geben.

«Der gesunde Weg sollte der einfachere sein. Dann funktioniert Prävention am besten.»
Thomas Steffen

Unabhängig von der Selbstverantwortung: Menschen machen nun mal Fehler. Wie begegnet die BFU diesem Problem?

Stefan Siegrist: Wir appellieren einerseits an das Verhalten. Denn wenn wir die richtigen Botschaften der richtigen Zielgruppe senden, erzielt dies Wirkung. Andererseits ist Verhältnisprävention meist nachhaltiger. Menschliches Fehlverhalten ist nicht einfach eine Charakterschwäche, sondern oft die Folge der begrenzten menschlichen Leistungsfähigkeit. Deshalb muss man Menschen möglichst sichere Verhältnisse zur Verfügung stellen. Auch die technischen Möglichkeiten gilt es auszuschöpfen: Ein Notbremsassistent kann beispielsweise eine gefährliche Situation entschärfen, die durch eine abgelenkte Person am Steuer entstanden ist. Es geht darum, den Menschen möglichst zu entlasten, statt mit viel Aufwand zu versuchen, das fehlerhafte Verhalten der Menschen zu verändern.

Thomas Steffen: Verhältnisprävention ist zeit- und ressourcenintensiver. Sie ist aber oftmals wirksamer und nachhaltiger. Der Effekt auf die Gesundheit ist immens, seit in Restaurants heute nicht mehr geraucht wird. Auf sichere Verhältnisse zielte auch ein Projekt in Basel ab, an dem ich beteiligt war. Es ging darum, Übergewicht bei Kindern zu reduzieren. Dabei setzten wir neben Information vor allem auf die passende Umgebung. Kindergärten wurden umgebaut, um den Kindern mehr spontane Bewegung zu ermöglichen. An Schulautomaten und am Pausenkiosk liessen wir Süssgetränke und Pizza durch gesunde Snacks ersetzen. Der gesunde Weg sollte immer der einfachere sein. Dann funktioniert Prävention am besten.

Stefan Siegrist: Dem stimme ich zu. Dennoch ist es in der Übergangsphase manchmal so, dass der gesündere Weg auch ein «Lustkiller» ist. Ich kann mir z. B. keine TV-Serie «Die Präventionsprofis» vorstellen, Sendungen wie «Die Bergretter» und «Der Notfallchirurg» versprechen deutlich mehr Action. Prävention kann in gewissen Momenten zunächst mit einer Einschränkung der Lebensqualität einhergehen. Ein Velohelm wirkt sich nun mal auf die Frisur aus. Wichtig ist nur, dass die Menschen verstehen, dass Prävention wirksam ist.

Thomas Steffen: Der Mensch ist grundsätzlich ein Gewohnheitstier. Ehrliche, offene Kommunikation kann Hürden abbauen. Ich gebe zu, dass ich es manchmal auch anstrengend fand, während der Coronapandemie eine Maske zu tragen, und ich habe es auch so kommuniziert. Dennoch war es wichtig, richtig und hilfreich.

Die Coronapandemie hat aufgezeigt, dass es in der Gesellschaft von Fakten und «alternativen Fakten» wimmelt. Immer mehr Menschen äussern sich als «Experten». Wie setzt sich die Evidenz durch?

Stefan Siegrist: Ich verstehe, dass die Leute gegenüber Expertinnen und Experten skeptisch sind. Jeder möchte selbstbestimmt handeln, und das ist gut so. Unsere Aufgabe als Präventionsorganisation ist es, glaubwürdig zu sein. Klare und verständliche Botschaften sind dabei zentral. Grundlage dafür sind fundierte Analysen. Deshalb bin ich stolz auf die vier Kernkompetenzen der BFU: Forschung, Bildung, Beratung und Kommunikation. Wenn diese verschiedenen Pfeiler richtig zusammenspielen, bin ich überzeugt, dass die Botschaft ankommt und die Prävention Wirkung erzielt.

Thomas Steffen: Ich teile diese Meinung. Es gehört zum Glück zu unserer Kultur, dass es viele verschiedene Meinungen gibt und wir daraus einen gesellschaftlichen Konsens entwickeln. Ich denke, dass die grosse Mehrheit in der Gesellschaft pragmatisch und faktenorientiert vorgeht. Und dieser Mehrheit müssen wir für die Entscheidungen die Grundlagen liefern. Dazu ist eine möglichst einfache und verständliche Kommunikation zentral.

Vorgestellt

Thomas Steffen, Präsident von Public Health Schweiz und Facharzt für Prävention und Public Health sowie Präsident der Patientensicherheit Schweiz. Der Basler ist seit 30 Jahren in unterschiedlichen medizinischen Bereichen tätig, unter anderem in der Suchtforschung und im Spitalmanagement. Als Kantonsarzt des Kantons Basel-Stadt war er von 2020 bis 2022 für die kantonale Coronabekämpfung zuständig.

Stefan Siegrist, Direktor der BFU und Doktor der Psychologie. Der Solothurner prägt die Arbeit der BFU seit 30 Jahren in den drei Tätigkeitsgebieten Strassenverkehr, Sport sowie Haus und Freizeit. Unter seiner Leitung wurden mit den Präventionsgrundsätzen die Grundlagen für effiziente und zielgerichtete Unfallprävention weiter geschärft.

12 Grundsätze für die Praxis

Das Konzentrat jahrzehntelanger Erfahrung in der Unfallprävention fassen die «12 Grundsätze für die Praxis» zusammen. Sie dienen als Kompass, wenn es darum geht, Präventionsvorhaben zu entwerfen oder zu bewerten.

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