Vielfalt ist ein Gewinn In einer vielfältigen Schweiz für alle da zu sein und die Ansprüche aller zu berücksichtigen, ist eine Herausforderung. Wie dies gelingen kann, darüber unterhalten sich Jérôme Cosandey, Directeur romand und Leiter Tragbare Gesundheitspolitik von Avenir Suisse, und Stefan Siegrist, Direktor der BFU.

Unsere Gesellschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten radikal verändert. In der Schweiz ist es dichter, diverser und digitaler geworden. Ein grosses Thema ist auch der demografische Wandel. Diesen Entwicklungen müssen sich Unfallprävention und Gesundheitspolitik anpassen. Dazu liefert der Think-Tank Avenir Suisse liberale und wissenschaftlich fundierte Ideen für die Zukunft der Schweiz. Ebenso setzt sich die BFU aktiv mit der Unfallprävention von morgen auseinander.

Werfen wir zuerst einen Blick auf unseren Alltag in 20 Jahren. Müssen wir den Sitzplatz im ÖV fürs Pendeln reservieren? Erwarten uns bei Freizeitaktivitäten überall flexible Tarife? Oder leben wir mit KI in einer Bubble?

Jérôme Cosandey: Es wird anders sein, aber nicht total anders. Uns erwartet kein Science-Fiction-Film. Beim Pendeln im öffentlichen Verkehr sitzen im Viererabteil heute drei Erwerbstätige und eine Person im Rentenalter. In zwanzig Jahren wird die Hälfte der Plätze mit Seniorinnen und Senioren belegt sein. Mit einer grösseren Bevölkerung werden wir uns auch anders organisieren. Die Infrastruktur wird nicht mehr auf Vollauslastung dimensioniert sein, sondern vermehrt mit differenzierten Tarifen arbeiten. KI und Digitalisierung bringen keine Robocalypse hervor, dafür neue Tätigkeiten. Ich bin zuversichtlich, dass sich die Schweiz anpasst.

Stefan Siegrist: Das Potenzial für unseren Alltag sehe ich positiv. Ich erinnere mich zurück, wie zeitraubend es war, als ich als Bub am Postschalter für Einzahlungen anstehen musste. Die Zukunft wird individueller und organisierter sein, mit noch mehr digitalen Anwendungen. Mit geschärften Regeln wird die intelligentere und smartere Umwelt zu unserem Vorteil sein. Dabei muss die Planungsgrösse immer der Mensch mit seiner Verletzlichkeit bleiben. Beispielsweise verhindern smarte Skibindungen schlimme Knieverletzungen und die Automatisierung von Fahrzeugen hat das Potenzial, menschliche Fehler zu kompensieren und das Unfallrisiko zu senken.

Wie bringen die BFU und Avenir Suisse die verschiedenen Ansprüche einer vielfältig gewordenen Schweiz unter einen Hut?

Siegrist: Für die BFU bedeutet es, dass wir nicht nur für die Erwerbstätigen da sind. Obwohl sie es sind, die unsere Arbeit finanzieren. Wir setzen uns auch für Kinder sowie für Seniorinnen und Senioren ein. Aber nicht mit dem Giesskannenprinzip. Sondern wir eruieren die Unfallschwerpunkte und entwickeln daraus unsere Empfehlungen. Beispielsweise im Strassenverkehr, wo sich heute neben Autos, Velos und Motorrädern immer mehr elektrische Fahrzeuge tummeln. Die BFU will weder den technologischen Fortschritt bremsen noch die Vielfalt der Fortbewegungsmittel einschränken. Weiter gilt es, das Sicherheitsbedürfnis und den Mobilitätsanspruch der unterschiedlichen Nutzerinnen und Nutzer zu berücksichtigen. Mit wenigen, aber guten Regeln erreichen wir beides: Mobilität und Individualität. Wird zum Beispiel die Geschwindigkeit innerorts auf 30 km/h gesenkt, gibt es weniger Kollisionen und weniger schwere Verletzungen. Gleichzeitig wird der Verkehrsfluss verbessert.

Cosandey: Die Vielfalt liegt uns am Herzen. In einer liberalen Gesellschaft müssen alle ihren Platz und die gleichen Chancen haben. Beispielsweise empfehlen wir, auf politischer Ebene keine Familienform zu bevorzugen. Ob sich ein Paar mit Kindern entscheidet, zu je 50 Prozent zu arbeiten oder zu 80 und 20 Prozent, ist individuell. Kein Modell sollte bei der Finanzierung oder Besteuerung bestraft oder bevorzugt werden. Weiter sollte ein System Flexibilität und Wettbewerb zulassen. Hat man nur einen Anbieter, sei dieser öffentlich oder privat, ist das zwar ein Supertanker mit viel Kraft, aber schwer zu lenken. Mit kleineren, agilen Akteuren ist ein System resilienter. 

«Mehr Menschen bringen mehr Unfälle. Denn das Bedürfnis nach Mobilität und Sport bleibt hoch. Strategisch bedeutet das für die BFU, den jetzt schon verankerten Ansatz nach einer sichereren Umgebung weiter zu verstärken.»
Stefan Siegrist

Bedeutet mehr Vielfalt auch mehr Respekt, mehr Miteinander und mehr Solidarität anstelle von mehr Selbstverwirklichung?

Cosandey: Nehmen wir eine Seilschaft in den Bergen. Solidarität ist nicht nur das Seil zwischen den Alpinisten. Sondern auch, dass ich mit der richtigen Ausrüstung komme, vorbereitet und fit bin, ohne am Vorabend bis tief in die Nacht gefeiert zu haben. Mit meinem Verhalten vermeide ich den Absturz in eine Gletscherspalte. Nur wenn das Schicksal zuschlägt und ich ausrutsche, helfen die anderen. Solidarität beginnt als Erstes bei mir, die Hilfe der anderen ist nur subsidiär. Selbstverwirklichung muss dazu kein Gegensatz sein, solange ich realisiere, dass ich durch mein Verhalten das Schicksal der anderen tangiere. Daran zu appellieren, scheint mir wichtig.

Siegrist: Wenn es überall dichter wird, im Strassenverkehr, im Sport und in der Siedlung, ist Kommunikation essenziell. Wird die Freiheit der anderen tangiert, müssen wir auch über die Regeln sprechen. Und darüber, wo eine Gesellschaft Solidarität braucht und wie man diese einfordert. Das kann nicht nur mit gesetzlichen Vorschriften geschehen. Nehmen wir als Beispiel den Konflikt zwischen Wandernden und Mountainbike-Fahrenden. In gewissen Ländern ist ihr Verhalten hochreguliert. In der Schweiz streben wir nach der Benützerfreundlichkeit von gemeinsam genutzten Wegen. Ist diese gegeben, beginnen sich die Verhaltensweisen beider Parteien aufeinander einzustellen. Ich vertraue darauf, dass wir in unserer dichten Umwelt lernen, respektvoller miteinander umzugehen.

Cosandey: Früher hat man sich als Wanderer extrem über Mountainbikes genervt. Und umgekehrt. Heute machen jene auf dem Mountainbike mit Glöckchen oder einem «Hallo» auf sich aufmerksam und bedanken sich beim Passieren. Wanderer hingegen lassen Bikes bei steilen Stellen auf der Bergseite vorbeifahren. Das geschieht ohne klare Regeln, sondern durch das Miteinander. Selbstverwirklichung und Respekt schliessen sich nicht aus.

Jérôme Cosandey und Stefan Siegrist diskutieren

Wie sieht es mit den regionalen Unterschieden aus? Will ein Romand gleich behandelt werden wie eine Tessinerin?

Siegrist: Die Vielfalt der Schweiz ist ein Reichtum. Natürlich wollen wir, dass unsere Kampagnen in allen Landesteilen verstanden werden. Unsere Forschung zeigt, dass die Akzeptanz von Schockbildern in Kampagnen im Tessin doppelt so hoch ist wie in der Deutschschweiz. Ein weiteres Beispiel sind Comics zur Verkehrserziehung in der Schule. In der französischsprachigen Schweiz kommen diese super an, in der Deutschschweiz viel weniger. Für die Feinplanung sind solche Resultate entscheidend.

Cosandey: Der Föderalismus ist eine Stärke der Schweiz. Die Bedürfnisse der Romandie, des Tessins und der Deutschschweiz unterscheiden sich, deshalb sollte man, wenn immer möglich, die Entscheidungen der kantonalen Ebene überlassen. Funktioniert etwas in einem Kanton gut, beispielweise eine Präventionsmassnahme, wird es nachgeahmt. Nur bei grossen Skalen- oder Netzwerkeffekten sollte man den Bund vorziehen. Es wäre nicht sinnvoll, dass jeder Kanton für sich entscheidet, ob auf der rechten oder linken Strassenseite gefahren wird. Welche Velowege wo ausgebaut werden, kann hingegen lokal entschieden werden. 

«Nehmen wir eine Seilschaft in den Bergen. Solidarität ist nicht nur das Seil zwischen den Alpinisten. Sondern auch, dass ich mit der richtigen Ausrüstung komme, vorbereitet und fit bin, ohne am Vorabend bis tief in die Nacht gefeiert zu haben.»
Jérôme Cosandey

Wir nähern uns der 9-Millionen-Schweiz, diskutiert wird bereits ein Wachstum der Bevölkerung auf 10 Millionen. Was bedeutet das für die Unfallprävention und die Gesundheitspolitik? Kann sich die Schweiz so viele Einwohnerinnen und Einwohner leisten? 

Cosandey: Die Frage ist, ob die Schweiz sich das leisten will. Bauen wir verdichtet, gibt es grundsätzlich Platz für mehr Infrastruktur wie Strassen, Schulen oder die Stromproduktion. Dieses Thema hat eine starke emotionelle und politische Dimension. Wollen wir diese Verdichtung und einen zunehmenden Ausländeranteil? Auf die Sozialversicherungen hat die Einwanderung insgesamt einen positiven Effekt. Natürlich haben wir mehr Leistungsbezüger, aber auch mehr Beitragsleistungen. Es kommen zudem besser qualifizierte, eher jüngere und gesunde Personen, die gut verdienen und so ihren Beitrag zur AHV und zur Krankenversicherung leisten. 

Siegrist: Mehr Menschen bringen mehr Unfälle. Denn das Bedürfnis nach Mobilität und Sport bleibt hoch. Strategisch bedeutet das für die BFU, den jetzt schon verankerten Ansatz nach einer sichereren Umgebung weiter zu verstärken. Mit selbsterklärenden Strassen, fehlerverzeihenden Sportanlagen, die mehr Sicherheit bieten, weil sie den Menschen weniger überfordern. Letztlich dient das allen Benützerinnen und Benützern. Dann ist auch weniger relevant, ob die Infrastruktur von 1000 oder 3000 Personen genutzt wird. 

Jérôme Cosandey im Gespräch mit Stefan Siegrist

Auch die Demografie verändert sich. Die Menschen leben länger, die Zahl der Personen im Rentenalter steigt an.

Cosandey: Es ist schön, steigt unsere Lebenserwartung. Seniorinnen und Senioren sind in der Werbung eine neue Zielgruppe geworden. Das gilt auch für die Prävention, die ihre Sprache anpassen muss, um die Menschen dort abzuholen, wo sie sind. Im Gesundheitssektor steigt die Bedeutung der Prävention von chronischen Krankheiten wie Diabetes oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Denn diese Krankheiten belasten die betroffenen Menschen ihr ganzes Leben lang. 

Siegrist: Die demografische Veränderung beschäftigt uns schon lange. Sie kostet uns jedes Jahr hunderte Millionen Franken wegen Stürzen von älteren Personen. Auch nimmt nach einem Sturz die Lebensqualität ab, der Pflegebedarf zu. Deshalb hat die BFU die grossen Programme zur Sturzprävention entwickelt. Wir wollen Leute ab 50 motivieren, sich zu bewegen, Kraft und Beweglichkeit zu trainieren. Damit sinkt die Sturzgefahr beim Älterwerden. Hier wächst Unfallprävention mit der allgemeinen Gesundheitsprävention zusammen. 

Cosandey: Viele betagte Menschen haben Sturzangst und gehen nicht mehr nach draussen. Sind Trottoirs im Winter geräumt, der Bus seniorengerecht ausgestattet, überlässt man älteren Menschen den Sitzplatz, dann leistet man auch einen Beitrag zum sozialen Zusammenhalt. 

Siegrist: Das glaube ich auch. Wächst die Bereitschaft, sich an den Bedürfnissen der Schwächsten zu orientieren, bedeutet das auch mehr Sicherheit für alle.

Vorgestellt

Jérôme Cosandey, Directeur romand von Avenir Suisse. Er setzt sich zudem als Forschungsleiter Tragbare Sozialpolitik vorwiegend mit der Altersvorsorge, Gesundheitspolitik sowie mit dem Generationenvertrag auseinander. Nach seiner Promotion an der ETH war er mehrere Jahre als Strategieberater bei The Boston Consulting Group, danach bei der UBS tätig. Er hält einen Master der Universität Genf in internationaler Wirtschaftsgeschichte. 

Stefan Siegrist, Direktor der BFU und Doktor der Psychologie. Der Solothurner prägt die Arbeit der BFU seit 30 Jahren in den drei Tätigkeitsgebieten Strassenverkehr, Sport sowie Haus und Freizeit. Unter seiner Leitung wurden mit den Präventionsgrundsätzen die Grundlagen für effiziente und zielgerichtete Unfallprävention weiter geschärft.

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