Müssen Werte wie Toleranz und Respekt an Bedeutung zunehmen?
Gentinetta: Bei der Gewöhnung an sich verändernde Umstände ist unser Verhalten entscheidend. Toleranz und Respekt sind grosse Begriffe, wichtiger sind die konkreten Auswirkungen. Sehr gut kann man das daran illustrieren, wie es heute im öffentlichen Verkehr zu und her geht. Brauche ich wirklich meine Ellbogen, um einen Platz im Zug zu ergattern, muss ich wirklich alle Telefonkonferenzen und Essgewohnheiten mitbekommen, der Rentnergruppe beim Jassen zuhören oder mich fühlen wie in einer Kinderkrippe, wenn ich arbeiten will? Ich halte mich regelmässig in Paris auf. In der Stadt leben gleich viele Menschen wie in der Schweiz, alles ist noch dichter und enger. Hier ist das «Pardon» eine Selbstverständlichkeit, wenn man sich gegenseitig den Weg verstellt oder im Gedränge aneinanderstösst. Man nimmt sich in der Metro wenig Platz und verhält sich ruhig. Es gibt ein starkes Bewusstsein dafür, dass Höflichkeit, Respekt und Takt den Alltag in einer dichten Stadt angenehmer machen. Wir würden uns und allen anderen das Leben sehr erleichtern, wenn wir uns im öffentlichen Raum nicht so ausbreiten, wie wir das zu Hause tun.
Dann ist das Recht auf Individualismus ein Schweizer Phänomen?
Gentinetta: Sagen wir es so: Wir haben auch deshalb Dichtestress, weil wir mit der Dichte nicht umgehen können. Wir können noch dazulernen: für einen angenehmeren Umgang miteinander.
Siegrist: Respekt und Toleranz waren schon immer wichtig und bleiben es weiterhin. Dort, wo wir als BFU Einfluss haben, beispielsweise bei der Fahrausbildung und bei Jugend-und-Sport-Programmen, gehört es zur Unfallverhütung, dass sich das Individuum zurücknimmt. In unserer westlichen Wohlstandskultur haben alle das Bedürfnis, ihren momentanen Wunsch sofort auszuleben. In der Unfallverhütung reden wir von der geteilten Verantwortung. Auf der einen Seite darf ein System keine krassen Sicherheitsfallen enthalten, in die der Mensch unbewusst tappt. Nehmen wir hier als Beispiel einen Snowpark. Hier können Sprünge so gebaut werden, dass Ende der Saison sehr viele schwere Verletzungen zu registrieren sind. Oder man baut sie mit deutlich geringerem Risiko. Auf der anderen Seite steht die Forderung nach Eigenverantwortung. Weiter braucht es im öffentlichen Raum manchmal Regeln, Kontrollen oder Verbote. Auch steckt das Versicherungswesen die Grenze der Eigenverantwortung ab. Beispielsweise kann man bei einem Kind im Strassenverkehr weniger verlangen als von einem Skitourenfahrer.
Was können wir alle persönlich tun, damit wir uns in einer dichter werdenden Welt zurechtfinden?
Gentinetta: Letztlich kann der Umgang miteinander in einer wachsenden Gesellschaft jener Faustregel folgen, die auch für die Freiheit gilt: Mein Raum hört dort auf, wo dein Raum beginnt. Das müssen wir verinnerlichen. Denn es geht uns ganz direkt im Alltag besser, wenn wir uns gegenseitig respektieren.
Wie soll jemand, der sich beruflich mit Sicherheit auseinandersetzt, den Auswirkungen der Verdichtung begegnen? Beispielsweise eine Städteplanerin oder der Sicherheitsdelegierte einer Gemeinde?
Siegrist: Es braucht immer einen Plan. Wenn eine Bundesrätin sagt, in der Schweiz habe es Paltz für 12 Millionen Menschen, dann braucht diese Politik einen Plan. Wie unsere Schweiz aussehen soll, was das für das Bauen, die Pensionskassen oder die Schulen bedeutet. Auch wir als BFU brauchen einen Plan, zum Beispiel für eine sichere Verkehrsinfrastruktur mit selbsterklärenden Strassen. Wie diese gestaltet sein müssen, damit der Verkehr flüssiger und gleichzeitig sicherer fliesst. Pläne müssen auf jeder Ebene ergonomisch sein, also für die Menschen verträglich und kommunizierbar. Dadurch werden sie akzeptiert und verstanden.
Vorgestellt
Dr. Katja Gentinetta ist eine Schweizer Politik- und Wirtschaftsphilosophin. Seit über zehn Jahren arbeitet sie als selbstständige Publizistin, Universitätsdozentin sowie Verwaltungs- und Stiftungsrätin. Sie hat mehrere Bücher zu wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Themen publiziert, zuletzt «Streitfrage Wachstum», Westend Verlag 2022.
Dr. Stefan Siegrist ist Direktor der BFU und promovierter Doktor der Psychologie. Der Solothurner prägt die Arbeit der BFU seit 30 Jahren in den drei Tätigkeitsgebieten Strassenverkehr, Sport sowie Haus und Freizeit. Unter seiner Leitung wurden die Grundlagen für effiziente und zielgerichtete Unfallprävention weiter geschärft.