Zusammen in einer verdichteten Schweiz Immer mehr Menschen teilen sich den gleichen Raum. Was bedeutet das für die Schweiz, für unser Zusammenleben und für die Sicherheit in unserem Alltag? Im Gespräch beleuchten die politische Philosophin Katja Gentinetta und Stefan Siegrist, Direktor der BFU, die komplexen Fragen der Verdichtung. Mit einem erstaunlich einfachen Fazit.

Der Verdichtung können wir uns nicht entziehen. Wie nehmen Sie diese in Ihrem Alltag wahr?

Katja Gentinetta: Als Ästhetin mit einer Vorliebe für Architektur nehme ich unterwegs mit Interesse neue Überbauungen wahr und lasse mich von deren Qualität entweder erfreuen oder abschrecken. Weil ich Menschenmassen eher meide, bin ich im Zug froh, wenn es zumindest ruhig zu und her geht. Als Beobachterin von gesellschaftlichen Entwicklungen versuche ich auch immer Muster im Verhalten von Menschen zu erkennen, wie sie agieren und reagieren. 

Stefan Siegrist: Ich habe noch eine Schweiz mit sechs Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern erlebt. Jetzt sind es neun. Auch wenn dieser Bevölkerungsanstieg eher mit negativen Empfindungen verbunden ist, finde ich, dass viele Sachen einfacher geworden sind. Als Kind musste ich beim Postschalter noch lange anstehen, um Einzahlungen zu machen. Heute ist das viel besser organisiert. Trotz mehr Dichte gibt es in vielen Lebensbereichen intelligentere Lösungen.

Bedeutet Verdichtung nur mehr Menschen auf weniger Raum oder geht es auch um die Art und Weise, wie wir diesen Raum nutzen?

Gentinetta: Verdichtung ist ein uraltes Planungsprinzip. Seit der Antike mussten Städte innerhalb der schützenden Stadtmauern Platz haben. Während der industriellen Revolution wurde Wohnraum für die Arbeiterschicht benötigt, was zum abschreckenden Bild von grauen Städten und der Verelendung der Bevölkerung führte. In der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts dominierten die Bilder und Probleme der trostlosen Hochhausquartiere, in denen die Menschen trotz engem Aufeinanderleben vereinsamen. Erst mit dem Umweltbewusstsein und dem Nachhaltigkeitsgedanken kam der Versuch, Wohnen, Arbeiten und Freizeit näher zueinander zu bringen. Dazu gehören auch Überlegungen zu mehr Licht, Grünfläche und zu gemeinsamen Aussen- und Innenräumen. Dazu wird oft der Begriff der «Allmend» bemüht – das Ideal eines kollektiv verfügbaren Raums. Allerdings, das weiss man aus der Forschung, sind klar vereinbarte Regeln und auch Sanktionen entscheidend dafür, dass sie funktionieren.

Siegrist: Grundsätzlich ist Verdichtung ein wertneutraler Begriff aus den Naturwissenschaften. In Zusammenhang mit der Unfallprävention können mehr Menschen und mehr Bewegung in einem gegebenen Raum Probleme hervorrufen. Aber man muss prüfen, was das tatsächliche Problem ist, und was nur die Angst vor einem möglichen Problem. Nehmen wir als Beispiel die Skipisten. Die höhere Leistung der Transportanlagen führt zu einer höheren Nutzung der Piste. Das führt zur grösseren Angst vor Kollisionen. Daher schätzen die Personen bei Befragungen die Quote der Kollisionen auf zwischen 70 und 90 Prozent. Tatsächlich sind es aber nach wie vor acht Prozent. Die Ursachen bei Skiunfällen sind unter anderem höhere Geschwindigkeiten und härtere Pisten. Das zeigt, dass die subjektive Gefahrenwahrnehmung durch Verdichtung nicht zwangsläufig dem tatsächlichen Risiko entspricht. Zudem kann der Mensch auf sich verändernde Bedingungen auch reagieren – entweder mit Selbstregulation oder der Entwicklung und Durchsetzung von Regeln. 

«Ist der öffentliche Raum menschengerecht gestaltet, also für den Menschen verständlicher und berechenbarer, dann ist die schiere Dichte nicht das Problem.»
Stefan Siegrist

Ein gutes Beispiel. Man kommt aus der engen Stadt und will sich in den Bergen beim Wintersport frei fühlen. Ist Verdichtung also nicht nur ein städtisches Phänomen?

Siegrist: Es ist ein generelles Thema, aber mit anderen Ausprägungen. Es akzentuiert sich in der Stadt, gerade wenn man die Vielfalt der Verkehrsteilnehmenden anschaut. Logistisch ist es gar nicht mehr machbar, dass alle ihren zugeordneten Platz haben. Darum ist es umso wichtiger, ein friedliches Miteinander herzustellen. Senkt man beispielsweise die Geschwindigkeit, ist das für das Verkehrsklima wie für die Sicherheit positiv, ohne dass die Transportleistung des Verkehrs geschmälert wird.

Gentinetta: Die Verdichtung im ländlichen Raum ist der Versuch einer Antwort auf die Zersiedelung. Natur und Landwirtschaftsflächen sollen erhalten bleiben. Aber natürlich stösst man beim Verdichten von kleineren Ortschaften auf mehr Widerstand, weil die Leute explizit aufs Land ziehen, um einen eigenen Garten zu haben. So gesehen ist die Verdichtung auf dem Land die noch grössere Herausforderung. 

Katja Gentinetta und Stefan Siegrist diskutieren

Verändern sich unser Miteinander, unsere sozialen Normen oder das individuelle Stressempfinden?

Gentinetta: Man weiss heute, dass der Aufenthalt in der Natur, im Grünen Stress reduziert und gut für unsere Psyche ist. Es gibt also gute Gründe, verdichtetes Wohnen so zu gestalten, dass Grünflächen vorhanden sind, die auch gerne genutzt werden. Es geht nicht nur darum, die Natur zu schützen, sondern auch darum, den Menschen ein lebenswertes Leben zu ermöglichen. Interessant ist, dass verdichtete Konzepte oft von Leuten entworfen und propagiert werden, die selbst nicht in einem verdichteten Quartier leben. Ich vergesse nie eine Kollegin, die mir einmal erklären wollte, dass sie in einer solchen Überbauung wohnt und nach dem Fachbegriff suchte. Sie sprach dann aber nicht von «verdichtetem Bauen», sondern von «gedrängtem Wohnen». Das sagt eigentlich alles.

Haben mehr Menschen, die sich den gleichen Raum teilen, Auswirkungen auf das Unfallgeschehen?

Siegrist: Das Unfallrisiko steigt. Allein schon aufgrund des häufigeren Auftretens von menschlichen Fehlleistungen. Das bedeutet aber nicht zwangsläufig mehr schwere Verletzungen und Unfalltote. Deutlich sehen wir das im Strassenverkehr. Die Verdichtung der letzten Jahrzehnte ist enorm. Aber trotz der höheren Verkehrsleistung hatten wir eine signifikante Abnahme der schweren Unfälle. Aber einen Automatismus hin zu immer weniger Toten und Schwerverletzten gibt es nicht. Denn seit drei Jahren haben wir eine Trendwende. Für die BFU ist es ein grosses Anliegen, dies der Politik und den Entscheidungsträgern bewusst zu machen. 

«Mein Raum hört dort auf, wo dein Raum beginnt. Das müssen wir verinnerlichen.»
Katja Gentinetta

Mit Folgen für die Unfallprävention?

Siegrist: Die Planungsgrösse muss der Mensch sein. Und der Mensch ist nicht perfekt, schon rein physisch sind wir verletzlich. Das wird deutlich am Beispiel von Tempo 30 innerorts. Kollisionen mit Tempo 50 sind wahrscheinlicher und tödlicher als mit Tempo 30. Ist der öffentliche Raum menschengerecht gestaltet, also für den Menschen verständlicher und berechenbarer, dann ist die schiere Dichte nicht das Problem.

Was braucht es, damit unser zunehmend verdichteter Lebensraum sicher und lebenswert bleibt?

Gentinetta: Jüngere Vorzeigeprojekte legen sehr viel Wert nicht nur auf intelligente Konzepte, sondern beziehen die gegenwärtigen und künftigen Bewohnerinnen und Bewohner mit ein. Solche Mitwirkungsprozesse sind wünschenswert. Umgekehrt ist es die Aufgabe der Politik, zwar Vorschriften zu erlassen, die für alle gelten, aber derartige Prozesse nicht allen aufzuzwingen. Es ist ein Unterschied, ob eine Genossenschaft oder ein Investor dahintersteht und wer nachher in der Überbauung lebt. Das Miteinander geht immer stark von einer Idealvorstellung aus. Es gibt Menschen, die das Zusammensein suchen und andere, die froh über ihre eigenen vier Wände sind. Darum ist es wichtig, dass in solchen Strukturen sowohl ein Mit- als auch ein Nebeneinander möglich sind. Letztlich geht es bei der Verdichtung darum, Fläche zu optimieren – und nicht den Menschen.

Siegrist: Wir brauchen gewisse Regeln für das Miteinander. Aber es ist eine Frage der Balance, die Menschen nicht zu bevormunden und ihnen Sicherheit aufzuzwingen. Mehr Verdichtung bedeutet nicht Harmonie. Aber es ist auch nicht so, dass die Menschen ausrasten, wenn sie im Stau stehen. Sie passen sich an und nehmen das ab einem bestimmten Punkt hin. Das bezeichne ich als Gewöhnungseffekt. 

Stefan Siegrist im Gespräch mit Katja Gentinetta.

Müssen Werte wie Toleranz und Respekt an Bedeutung zunehmen?

Gentinetta: Bei der Gewöhnung an sich verändernde Umstände ist unser Verhalten entscheidend. Toleranz und Respekt sind grosse Begriffe, wichtiger sind die konkreten Auswirkungen. Sehr gut kann man das daran illustrieren, wie es heute im öffentlichen Verkehr zu und her geht. Brauche ich wirklich meine Ellbogen, um einen Platz im Zug zu ergattern, muss ich wirklich alle Telefonkonferenzen und Essgewohnheiten mitbekommen, der Rentnergruppe beim Jassen zuhören oder mich fühlen wie in einer Kinderkrippe, wenn ich arbeiten will? Ich halte mich regelmässig in Paris auf. In der Stadt leben gleich viele Menschen wie in der Schweiz, alles ist noch dichter und enger. Hier ist das «Pardon» eine Selbstverständlichkeit, wenn man sich gegenseitig den Weg verstellt oder im Gedränge aneinanderstösst. Man nimmt sich in der Metro wenig Platz und verhält sich ruhig. Es gibt ein starkes Bewusstsein dafür, dass Höflichkeit, Respekt und Takt den Alltag in einer dichten Stadt angenehmer machen. Wir würden uns und allen anderen das Leben sehr erleichtern, wenn wir uns im öffentlichen Raum nicht so ausbreiten, wie wir das zu Hause tun. 

Dann ist das Recht auf Individualismus ein Schweizer Phänomen?

Gentinetta: Sagen wir es so: Wir haben auch deshalb Dichtestress, weil wir mit der Dichte nicht umgehen können. Wir können noch dazulernen: für einen angenehmeren Umgang miteinander.

Siegrist: Respekt und Toleranz waren schon immer wichtig und bleiben es weiterhin. Dort, wo wir als BFU Einfluss haben, beispielsweise bei der Fahrausbildung und bei Jugend-und-Sport-Programmen, gehört es zur Unfallverhütung, dass sich das Individuum zurücknimmt. In unserer westlichen Wohlstandskultur haben alle das Bedürfnis, ihren momentanen Wunsch sofort auszuleben. In der Unfallverhütung reden wir von der geteilten Verantwortung. Auf der einen Seite darf ein System keine krassen Sicherheitsfallen enthalten, in die der Mensch unbewusst tappt. Nehmen wir hier als Beispiel einen Snowpark. Hier können Sprünge so gebaut werden, dass Ende der Saison sehr viele schwere Verletzungen zu registrieren sind. Oder man baut sie mit deutlich geringerem Risiko. Auf der anderen Seite steht die Forderung nach Eigenverantwortung. Weiter braucht es im öffentlichen Raum manchmal Regeln, Kontrollen oder Verbote. Auch steckt das Versicherungswesen die Grenze der Eigenverantwortung ab. Beispielsweise kann man bei einem Kind im Strassenverkehr weniger verlangen als von einem Skitourenfahrer. 

Was können wir alle persönlich tun, damit wir uns in einer dichter werdenden Welt zurechtfinden? 

Gentinetta: Letztlich kann der Umgang miteinander in einer wachsenden Gesellschaft jener Faustregel folgen, die auch für die Freiheit gilt: Mein Raum hört dort auf, wo dein Raum beginnt. Das müssen wir verinnerlichen. Denn es geht uns ganz direkt im Alltag besser, wenn wir uns gegenseitig respektieren.

Wie soll jemand, der sich beruflich mit Sicherheit auseinandersetzt, den Auswirkungen der Verdichtung begegnen? Beispielsweise eine Städteplanerin oder der Sicherheitsdelegierte einer Gemeinde?

Siegrist: Es braucht immer einen Plan. Wenn eine Bundesrätin sagt, in der Schweiz habe es Paltz für 12 Millionen Menschen, dann braucht diese Politik einen Plan. Wie unsere Schweiz aussehen soll, was das für das Bauen, die Pensionskassen oder die Schulen bedeutet. Auch wir als BFU brauchen einen Plan, zum Beispiel für eine sichere Verkehrsinfrastruktur mit selbsterklärenden Strassen. Wie diese gestaltet sein müssen, damit der Verkehr flüssiger und gleichzeitig sicherer fliesst. Pläne müssen auf jeder Ebene ergonomisch sein, also für die Menschen verträglich und kommunizierbar. Dadurch werden sie akzeptiert und verstanden.  

 

Vorgestellt

Dr. Katja Gentinetta ist eine Schweizer Politik- und Wirtschaftsphilosophin. Seit über zehn Jahren arbeitet sie als selbstständige Publizistin, Universitätsdozentin sowie Verwaltungs- und Stiftungsrätin. Sie hat mehrere Bücher zu wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Themen publiziert, zuletzt «Streitfrage Wachstum», Westend Verlag 2022.

Dr. Stefan Siegrist ist Direktor der BFU und promovierter Doktor der Psychologie. Der Solothurner prägt die Arbeit der BFU seit 30 Jahren in den drei Tätigkeitsgebieten Strassenverkehr, Sport sowie Haus und Freizeit. Unter seiner Leitung wurden die Grundlagen für effiziente und zielgerichtete Unfallprävention weiter geschärft.

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